In Reaktion auf die NSA-Affäre erklärte China 2015 als eines der ersten Länder der Welt „Cybersouveränität“ zu Ziel und Grundsatz seiner digitalpolitischen Maßnahmen. In seiner Eröffnungsrede der Global Internet Conference erklärte Chinas Präsident Xi Jinping 2015, dass im Sinne der staatlichen Souveränität jedes Land seine eigenen Regulierungsansätze im Internet verfolgen dürfen sollte
[64]
. Niemand solle in die Cybersouveränität eines anderen Landes eingreifen, sich mittels digitaler Kanäle in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten einmischen oder Cyberaktivitäten unterstützen, die die nationale Sicherheit eines anderen Landes untergraben
[65]
. China sieht Cybersouveränität primär als einen Weg, die nationale Sicherheit zu wahren, das Land vor äußerer Einflussnahmen und wirtschaftlicher Spionage zu schützen
[5]
, aber auch, um die lokale Wirtschaft zu unterstützen, indem chinesischen Firmen bevorzugte Behandlung zuteilwird
[65]
. Ähnlich verhält es sich in Russland, wo digitale Souveränität mit stärkerer staatlicher Kontrolle über den digitalen Raum und insbesondere über den Datenverkehr auf russischem Staatsgebiet gleichgesetzt wird
[65]
.
Eine wichtige Rolle in dieser Strategie spielt die
Datenlokalisierung [66]
, die vorsieht, dass Daten möglichst nur noch innerhalb nationaler Grenzen und rechtlicher Zuständigkeiten gespeichert, übertragen und verarbeitet werden. Hierfür ist es erforderlich, Kontrolle über die wesentlichen technischen Infrastrukturen des Internets zu erlangen bzw. diese auf dem eigenen Staatsgebiet zu lokalisieren. Technisch umgesetzt wird dies zum Beispiel mit nationalen Dateninfrastrukturen, lokalen Datenzentren, nationalem Routing, nationalen E-Mail Services und nationaler Grundnetz-Infrastruktur
[67]
.
Die geschaffenen Strukturen bieten jedoch auch neue Möglichkeiten für die systematische Überwachung und Zensur der Bevölkerung. In Russland beispielsweise sind Internetanbieter seit 2019 durch das „Sovereign Internet Law“ verpflichtet, Netzwerktechnik zu installieren, die eine effektivere Überwachung des Datenverkehrs und die Sperrung unerwünschter Inhalte ermöglichen. In China sorgen die „Internet Domain Name Regulations“ seit 2019 dafür, dass jeglicher grenzüberschreitender Datenverkehr geblockt wird, der zuvor nicht ausdrücklich von den Zensurbehörden genehmigt wurde. Will beispielsweise ein ausländisch registriertes Nachrichtenportal in China abrufbar sein, wird es sich selbst zensieren müssen
[68]
.
Abschottungstendenzen in der EU
Argumente für stärkere technische Abschottung wurden nach der NSA-Affäre auch in westlichen Ländern laut, beispielsweise in der Diskussion um das Schengen-Routing
[69]
. Das erklärte Ziel dabei war es, den Schutz vor Spionageaktivitäten ausländischer Geheimdienste im Schengenraum zu stärken. Das Schengen-Routing wäre nicht zuletzt mit dem willkommenen Nebeneffekt verbunden gewesen, dass europäische Firmen, insbesondere die Deutsche Telekom, von dieser Umsetzung hätten profitieren können
[70]
. Die Idee wurde jedoch zunächst wieder verworfen. Zu gering sei der tatsächliche Nutzen, zu global vernetzt der Datenverkehr, zu groß die Gefahr eines „
Splinternets“ – eines anhand geographischer und kommerzieller Grenzen in viele voneinander isolierte Bereiche zerfaserten Internets
[71]
[72]
. Doch auch rund 10 Jahre nach der NSA-Affäre werden in der Debatte um digitale Souveränität immer wieder ähnliche Argumente für die Lokalisierung essentieller technischer Infrastrukturen innerhalb der EU gemacht, zum Beispiel im Rahmen des europäischen Dateninfrastrukturprojekts Gaia-X
[73]
(siehe Kapitel 3.3).
Prof. Dr. Thorsten ThielAssoziierter Forscher
„Das Schengen-Routing war ein im Anschluss an die Snowden-Enthüllungen diskutierter politischer Vorstoß, Datenverkehr stärker zu nationalisieren bzw. zu regionalisieren, um zu verhindern, dass US-amerikanische Dienste Zugriffsmöglichkeiten auf solche Kommunikation erhalten, die ausschließlich zwischen Angehörigen einer Region – in diesem Fall der Region jener europäischen Länder, die dem Schengener Abkommen beigetreten sind – stattfindet.“ (2014)
2.6 Geoökonomische Abhängigkeit
In der Debatte um digitale Souveränität geht es gerade auf EU-Ebene häufig darum, sich aus wirtschaftlichen Abhängigkeitsverhältnissen zu befreien. Die Digitalindustrie ist wie kaum ein anderer Industriezweig von Abhängigkeiten geprägt. Wer essentielle Komponenten oder Dienste beherrscht, ist in der Lage, andere Staaten unter Druck zu setzen, wer von einzelnen Zulieferern oder Ländern abhängig ist, macht sich erpressbar. Derartige wirtschaftliche Abhängigkeitsverhältnisse werden im Diskurs um digitale Souveränität sehr prominent thematisiert, denn sie schmälern die Möglichkeit – gerade der europäischen Industrie – unabhängig und selbstbestimmt agieren zu können. Digitale Souveränität (in diesem Zusammenhang wird häufig von „
strategischer Autonomie“ gesprochen
[74]
) bedeutet hier, die strukturelle Abhängigkeit von digitalen Technologien und geistigem Eigentum aus dem Ausland zu reduzieren, um Verfügbarkeiten zu sichern, Wahlmöglichkeiten zu schaffen und die eigene wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit zu stärken
[31]
.
Die Halbleiterindustrie